Felsen, von glücklichem Sisyphos gewälzt

In der Rubrik „Glücksimpulse“ stelle ich regelmäßig Gedankenanstöße und Glücksaktivitäten vor, die sich leicht im Alltag umsetzen lassen oder zum Nachdenken anregen. Heute: glücklicher Sisyphos?

Eines der bekanntesten Werke des französischen Schriftstellers und Philosophen Albert Camus (1913-1960) ist „Der Mythos von Sisyphos“ (orig. 1942). In diesem beleuchtet Camus ein Phänomen, das er als „das Absurde“ bezeichnet. Am Ende der Schrift geht er näher auf die titelgebende mythologische Figur des Sisyphos ein. Dieser wurde von den Göttern zu einer augenscheinlich brutalen Strafe verurteilt: Er muss in alle Ewigkeit einen Fels einen Berg hinaufrollen. Kaum am Gipfel angekommen, rollt dieser wieder ins Tal hinunter und die Aufgabe wiederholt sich. Auf diesen Mythos gehen entsprechend die Begriffe „Sisyphosaufgabe“ und „Sisyphosarbeit“ zurück. Was sich nach ewiger Qual, Erfahrung der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit anhört, stellt nach Camus jedoch eine potenzielle Quelle des Glücks dar.

Camus schreibt:

Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.

Der Mythos von Sisyphos, S. 98, Rowohlt Taschenbuch Verlag (1959)

Nach Camus ist nun gerade das Bewusstsein der Situation das Tragische:

Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird.

S. 99

Camus‘ Pointe ist nun jedoch die Behauptung, dass Sisyphos – trotz aller Qualen und Vergeblich- und Auswegslosigkeit – durchaus als glücklich bezeichnet werden könne:

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. (…) Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. (…) Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

S. 100f.

Könnt ihr diese Position nachvollziehen? Schreibt eure Meinung gerne unten in die Kommentare.

Wer sich für mehr Kontext interesiert, dem sei die Originalschrift ebenso ans Herz gelegt wie die interpretierende Monographie Albert Camus von Annemarie Pieper. (C. H. Beck, 1984; wahrscheinlich nur antiquarisch erhältlich). Bei Interesse an der Biographie Camus‘: Iris Radisch: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. (Rowohlt)

Eine spannende psychologische Analyse des Mythos von Sisyphos ist: Sisyphos – Altes loslassen und neue Wege gehen von der Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast (Patmos, 2019).

Foto: Pixabay

Von André Martens

André Martens ist studierter Philosoph und Psychologe mit mehrjähriger Erfahrung im Bereich der klinischen Psychologie. Er ist der Gründer des Blogs gluecksquellen.de. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich privat und professionell mit dem Thema Glück.

Ein Gedanke zu “Glücklicher Sisyphos? (Glücksimpuls Nr. 6)”
  1. Ich glaube wir rollen ein Lebenlang Steine nach oben, arbeiten und werden nicht fertig. Wir sind dabei nicht unglücklich. Sehr oft sogar glücklich.

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