Das Wichtigste in Kürze
- Glück als Ziel: Glück (eudaimonia) ist für Aristoteles das Endziel menschlichen Handelns und wird um seiner selbst willen angestrebt. Es ist keine flüchtige Freude, sondern wird durch eine tugendgemäße, vernünftige Lebensführung erreicht.
- Tugend als Mitte: Tugenden sind gemäß Aristoteles als „Mitte“ zwischen Extremen definiert (Mut liegt beispielsweise zwischen Tollkühnheit und Feigheit). Sie sind durch Übung und Vernunft entwickelbare Dispositionen.
- Äußere Güter nur Instrumente: Für Aristoteles sind äußere Güter wie Gesundheit, Aussehen oder Herkunft hilfreich, aber nicht entscheidend für das Glück. Sie sind Mittel zum Zweck, nicht das Endziel menschlichen Strebens.
Inhalt
Wer war Aristoteles?
Aristoteles (384–322 v. Chr.) war ein bedeutender griechischer Philosoph, Wissenschaftler und Schüler Platons. Geboren in Stagira, einer Stadt in Chalkidiki, trat er mit circa 17 Jahren in Platons berühmte Akademie in Athen ein, wo er über 20 Jahre lernte und lehrte. Nach Platons Tod gründete Aristoteles u. a. in Assos eine philosophische Schule. Um 343 v. Chr. wurde er Erzieher Alexanders des Großen, bevor er 335 v. Chr. seine eigene Schule, das Lykeion in Athen, eröffnete.
Aristoteles deckte mit seinen Werken ein breites Themenspektrum ab, darunter Logik, Ethik, Politik, Naturwissenschaften und Metaphysik. Seine Methode, Wissen durch Beobachtung und Analyse systematisch zu gewinnen und zu ordnen, war epochemachend. Bekannte Schriften wie die Nikomachische Ethik und die Politik beeinflussen bis heute Ethik und Politikwissenschaft.
Nach Alexanders Tod im Jahr 323 v. Chr. geriet Aristoteles in politische Schwierigkeiten und floh aus Athen. Er starb 322 v. Chr. in Chalkis. Seine Werke, teils verloren, teils nur fragmentarisch überliefert, haben die westliche Philsophie und Wissenschaft entscheidend geprägt.
Glück bei Aristoteles: ein Überblick*
Aristoteles stellt das Glück (eudaimonia, εὐδαιμονία) in den Mittelpunkt seiner Ethik. Dabei versteht er unter Glück ausdrücklich kein flüchtiges Momentglück oder subjektives Wohlbefinden (Glücksgefühl), wie viele Vertreter des Hedonismus oder auch der modernen psychologischen Glücksforschung. Formal ist Glück für ihn das höchste Gut, das Endziel des Menschen. Es wird um seiner selbst willen angestrebt und stellt somit kein Instrument für etwas anderes dar (z. B. als ein Mittel für mehr Gesundheit, Erfolg usw.). Daher wird Aristoteles‘ Glückskonzeption als teleologisch bezeichnet (telos: Ziel).
Inhaltlich bestimmt Aristoteles das Glück als eine der Tugend (areté) gemäße Tätigkeit der Seele. Dies sei, so Aristoteles‘ anthropologische Bestimmung, die dem Menschen eigentümliche Funktion (ergon). Tugenden sind für Aristoteles eine Art Mitte zwischen Extremen (sog. Mesotes-Lehre). Zum Beispiel liegt die Tugend des Mutes bzw. der Tapferkeit zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Die Ausbildung von Tugenden erfordert gemäß Aristoteles regelmäßige Übung und Mühe. Man könnte sagen: Glück ist für Aristoteles etwas Praktisches, kein Geschenk des Schicksals, das wir passiv empfangen (i. S. eines Zufallsglücks).
Im Vergleich zu vielen modernen Glückstheorien zeichnet sich Aristoteles‘ Ansatz durch seine Normativität und Teleologie aus. Er hat einen objektiv-universalistischen, nicht einen kultur- oder epochenrelativen Charakter.
In den folgenden Abschnitten führe ich diese erste Übersicht über Aristoteles‘ Glückstheorie anhand von erläuterten Zitaten weiter aus.
Zitate von Aristoteles über das Glück mit Kommentar*
Glück: Das höchste Gut bei Aristoteles
Formal bestimmt Aristoteles das Glück bzw. die Glückseligkeit als das höchste Gut, als ein Ziel des menschlichen Handelns, das wir seiner selbst wegen wollen und nicht um etwas anderen wegen (was zum Beispiel dann der Fall wäre, wenn wir das Glück bloß als Mittel zum Zweck der psychischen Gesundheit anstreben würden). Man spricht daher auch von einer teleologischen Glücksethik (telos: Ziel). Aristoteles entwirft dabei eine Art Hierarchie möglicher Ziele, wobei es ein bestes Ziel oder höchstes Gut geben müsse:
„Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, (…) so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein.“ (1094a)
Und weiter:
„Im Namen stimmen hier wohl die meisten überein: Glückseligkeit nennen es die Menge und die feineren Köpfe, und dabei gilt ihnen Gut-Leben und Sich-gut-Gehaben mit Glückselig-Sein als eins. Was aber die Glückseligkeit sein soll, darüber entzweit man sich, und die Menge erklärt sie ganz anders als die Weisen.“ (1095a)
Für Aristoteles ist das Glück das vollkommenste Gut (das Vollendete), für sich hinreichend (sich selbst genügend) und das wählenswerteste Gut (vgl. 1097a f.).
Die – uns wohl alle interessierende – Frage ist nun aber, was Glück inhaltlich ist:
„Jedoch mit der Erklärung, die Glückseligkeit sei das höchste Gut, ist vielleicht nichts weiter gesagt, als was jedermann zugibt. Was verlangt wird, ist vielmehr, daß noch deutlicher angegeben werde, was sie ist. Dies dürfte uns gelingen, wenn wir die eigentümlich menschliche Tätigkeit ins Auge fassen.“ (1097b)
Die Bedeutung der Tugend für das Glück
Nach Aristoteles haben Dinge, so auch der Mensch, eine ihnen/ihm eigentümliche Funktion (ergon), gewissermaßen eine arttypische Leistung (beim Menschen: ergon tou anthrópou, vgl. 1097b). Die eigentümlich menschliche Funktion verknüpft Aristoteles nun, uns von etwa Tieren abgrenzend, mit der Vernunft und ihrem praktischen Ausdruck. In der Philosophie ist von dem so genannten Ergon-Argument die Rede. Wichtig, aber häufig übersehen, ist, dass Aristoteles offenbar universalistische, anthropologische Annahmen in seine Glückskonzeption integriert.
Er schreibt:
„Wenn aber das eigentümliche Werk und die eigentümliche Verrichtung des Menschen in vernünftiger oder der Vernunft nicht entbehrender Tätigkeit der Seele besteht, (…) und wir als die eigentümliche Verrichtung des Menschen ein gewisses Leben ansehen, nämlich mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und entsprechendes Handeln, (…) so bekommen wir nach alledem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“ (1098a)
Nach Aristoteles ist besagte der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele nun aber kein 100-Meter-Lauf, sondern ganz eindeutig „Langstrecke“. Hierzu ein sehr bekanntes Zitat von Aristoteles:
„Dazu muß aber noch kommen, daß dies ein volles Leben hindurch dauert; denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig.“ (1098a)
Aristoteles‘ geradezu perfektionistische Position begründet die Notwendigkeit zur lebenslänglichen Tugend-Realisation:
„Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen, wenn sie außerdem noch die volle Länge eines Lebens dauert, da nichts, was zur Glückseligkeit gehört, unvollkommen sein darf.“ (1177b)
Was ist Tugend bei Aristoteles?
Der Begriff der Tugend (areté, vermutlich verwandt mit agathos: gut) ist schwer zu übersetzen. Es können auch Aspekte einer Vortrefflichkeit oder Tüchtigkeit gemeint sein, die die körperliche Ebene mit einschließen. Hiervon distanziert sich Aristoteles jedoch explizit:
„Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht die Tüchtigkeit des Leibes, sondern die der Seele, wie wir ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der Seele verstehen.“ (1102a)
Zentral für Aristoteles‘ Tugendethik ist die so genannte Mesotes-Lehre (mesotes: Mitte). Die Tugend ist gewissermaßen eine Mitte zwischen den Extremen, zwischen zwei Lastern bzw. zwischen dem Mangel (zu wenig) und dem Übermaß (zu viel). Damit ist aber keine mathematische, arithmetische Mitte gemeint; sie wird vielmehr von der phronesis (in etwa: praktische Urteilskraft, Klugheit) bestimmt. Ein Beispiel wäre: Mut als Tugend, Tollkühnheit und Feigheit als Extreme bzw. Laster.
Aristoteles schreibt:
„Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt.“ (1106b f.)
Mit Habitus ist eine Handlungsdisposition gemeint, also eine (eingeübte) Tendenz, sich in vergleichbaren Situationen so-und-so zu verhalten.
Äußere Güter als Mittel zum Zweck
Anders als etwa Platon oder die Stoiker (so etwa Epiktet) misst Aristoteles so genannten äußeren Gütern (ektos chorégia) eine gewisse Rolle für das Glück bei:
„Es ist aber auch ohne Zweifel zugestanden, daß die Unlust ein Übel und zu fliehen ist. (…) Die aber erklären, ein Mensch, der aufs Rad geflochten (sprich: gefoltert, A. M.) werde oder der ins größte Elend gerate, sei glückselig, wenn er tugendhaft sei, stellen absichtlich oder unabsichtlich eine nichtige Behauptung auf. Weil es aber zum glückseligen Leben auch noch der Glücksgüter bedarf, so scheint manchen das zufällige äußere Glück dasselbe zu sein wie die Glückseligkeit; dies ist jedoch nicht der Fall; denn es hindert dieselbe sogar, wenn es im Übermaß vorhanden ist, (…).“ (1153b)
Und zuvor schreibt Aristoteles bereits:
„(…); andererseits trübt der Mangel an gewissen Dingen, wie ehrbarer Herkunft, braver Kinder, körperlicher Schönheit die Glückseligkeit. Der kann nicht als sonderlich glücklich gelten, der von ganz häßlichem Äußern oder ganz gemeiner Abkunft oder einsam und kinderlos ist, und noch weniger vielleicht einer, der ganz lasterhafte Kinder oder Freunde hat oder die guten Freunde und Kinder, die er hatte, durch den Tod verlor. Deshalb also bedarf die Glückseligkeit, wie gesagt, auch solcher äußerer Güter, und so mag es sich erklären, daß einige das äußere Wohlergehen der Glückseligkeit gleichsetzen, wie andere die Tugend.“ (1099b)
Zu betonen ist an dieser Stelle, dass äußere Güter und günstige Umstände (Zufallsglück) einen bloß instrumentellen Wert fürs Glück haben. Sie sind Mittel zum Zweck und selbst noch nicht hinreichend für das Glücklichsein (vgl. 1096a). Eine ganz andere Aufassung äußerer Güter hatten etwa die Stoiker, die hier von Adiaphora sprachen.
Zusammenfassung: Aristoteles über Glück und Tugend
Aristoteles‘ Glücksethik bestimmt das Glück (Glückseligkeit, eudaimonia) als der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ein Leben lang, weshalb auch von einer Tugendethik gesprochen wird. Tugenden werden dabei als eine Mitte (das rechte Maß) zwischen den Extremen aufgefasst. Sowohl Geiz als auch Verschwendungssucht wären beispielhafte Laster, Großzügigkeit hingegen eine Tugend. Glück bei Aristoteles hat also eine ausdrücklich aktive Komponente. Es geht um das Führen eines guten (bzw. besten) Lebens, um ein Strebensglück, das man sich aktiv erarbeitet (durch Einübung), nicht um ein passives Glück haben (Zufallsglück).
Aristoteles entwirft eine so genannte eudämonistische Glückskonzeption, in Abgrenzung etwa von rein hedonistischen Positionen, die einzig und allein Lustempfinden oder (in moderner Terminologie) subjektives Wohlbefinden mit Glück gleichsetzen. Anders als etwa Platon oder die Stoiker misst Aristoteles jedoch äußeren Gütern wie Aussehen, Herkunft und Gesundheit einen gewissen instrumentellen Nutzen für das menschliche Glück bei. Sein teleologisches Glücksverständnis ist dabei nach meiner Lesart universalistisch, in Abgrenzung von kultur- oder epochenspezifischen Konzeptionen.
Aristoteles‘ Nachwirken
Sowohl Aristoteles‘ Ethik als auch Glückslehre dürfen in der westlichen Geistesgeschichte nach wie vor zu den wirkmächtigsten gezählt werden. Aristoteles prägte eine Vielzahl von Philosophen in der Antike, im Mittelalter und der Neuzeit.
Im 20. Jahrhundert erfuhr schließlich auch seine Tugendethik eine regelrechte Renaissance. Ausgehend von Elizabeth Anscombe legten u. a. die Philosophinnen und Philosophen Philippa Foot, Alasdair Chalmers MacIntyre, Martha Nussbaum und Amartya Kumar Sen ausdrücklich an Aristoteles anknüpfende tugendethische Konzeptionen vor.
Tugenden fanden (ebenso wie das Konzept Glück bzw. happiness) ihren Weg auch in die so genannte Positive Psychologie, etwa bei Christopher Peterson und Martin Seligman, wobei meiner Meinung nach ein direkter Aristoteles-Einfluss, wenn man auf die Details achtet, eher fraglich ist.
Quellen und weiterführende Literatur
* Die illustrativen und belegenden Zwecken dienenden Zitate folgen der inzwischen klassischen Meiner-Übersetzung (s. u.).
Wer sich vertieft für Aristoteles‘ Glücksethik interessiert, könnte mit den ersten beiden Büchern (Abschnitten) der Nikomachischen Ethik starten und z. B. in das entsprechende Kapitel in der Monographie von Höffe (2014) oder auch den Wikipedia-Eintrag reinschauen. Aufgrund der Komplexität der aristotelischen Position habe ich mich in diesem Artikel nur auf einige zentrale Aussagen konzentriert. So bin ich etwa nicht auf die wichtige Unterscheidung verschiedener Lebensformen (z. B. Genussleben, politisches und theoretisches Leben) eingegangen.
- Aristoteles. (2017). Nikomachische Ethik (Meiner Philosophische Bibliothek, übersetzt und herausgegeben von E. Rolfes, 3. Auflage). Meiner Verlag. (Die klassische Übersetzung)
- Aristoteles. (2006). Nikomachische Ethik (übersetzt von U. Wolf). Rowohlt Taschenbuch Verlag.
- Barnes, J. (2000). Aristotle: A Very Short Introduction. Oxford University Press.
- Buchheim, T. (2009). Aristoteles (Herder Spektrum). Herder Verlag.
- Foot, P. (2002). Virtues and vices and other essays in moral philosophy. Oxford University Press. (Ein Beispiel für das Nachwirken Aristoteles‘ im 20. und 21. Jahrhundert)
- Höffe, O. (2014). Aristoteles (4., überarbeitete Auflage). C.H. Beck. (Eine gut verständliche Einführung in die aristotelische Philosophie)
- Höffe, O. (2010). Aristoteles: Nikomachische Ethik. Berlin: Akademie Verlag. https://doi.org/10.1524/9783050050232 (eine sehr gute, wenngleich sich eher an ein Fachpublikum richtende Einführung in die Nikomachische Ethik)
- Nussbaum, M. C. (2001). The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge University Press. (Ein weiteres Beispiel für das Nachwirken Aristoteles‘ im 20. und 21. Jahrhundert)
- Shields, Christopher (2020). Aristotle. In Stanford Encyclopedia of Philosophy, E. N. Zalta (Ed.). Abgerufen von https://plato.stanford.edu/entries/aristotle/ (11/2024).
Wenn du dich für die Philosophie des Glücks interessierst, empfehle ich dir auch folgende Artikel, die sich mit immer noch einflussreichen antiken philosophischen Positionen befassen:
- Epikur über Glück und Lust
- Epiktet über das Glück (inkl. Zitate)
- Was sind Adiaphora? (Definition, Zitate)
For international visitors, an English version of this article is also available on Glücksquellen: Aristotle on Happiness: Exploring Eudaimonia and Virtue.
Fotos: Martens, Pixabay, KI