Ist Glück normal? Ist es für jedermann möglich? Oder ist Glück etwas Außer-Gewöhnliches, A-Normales, gar eine Anomalie? Und erwarten wir in westlichen Gesellschaften vielleicht inzwischen zu viel vom Glück und können uns mit „bloß durchschnittlichem“ Normalo-Glück nicht mehr anfreunden?
Wohl (fast) alle Menschen streben nach Glück. Oder etwas weniger pathetisch ausgedrückt: nach Wohlergehen und Wohlbefinden. Das behauptete bereits Aristoteles.
Viele unserer Unternehmungen zielen darauf ab, ebenjene Glückszustände zu erreichen, gleich, wie man diese im Detail ausbuchstabiert. Ob als Lustzustände bzw. Freisein von Unlust wie bei Epikur, Glücksgefühle wie vielfach in der Alltagssprache, oder eine andere Glücksform. Gerade in unserer westlichen Optimierungskultur steht das Glücksstreben aktuell hoch im Kurs.
Da stellt sich die Frage: Ist Glück normal? Anders ausgedrückt: Ist es normal, glücklich zu sein? (Was auch immer man genau unter dem Wörtchen normal verstehen mag, dazu weiter unten mehr.)
In der Geschichte der Philosophie und verwandter Wissenschaften gab es seit jeher zahlreiche Zweifler. Zwei von ihnen, Hegel und Freud, sollen an dieser Stelle als Kronzeugen der These angeführt werden, dass Glück oder die Absicht, glücklich zu sein, eben nicht normal sind.
Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks (Hegel)
Der bekannte Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) beschäftigte sich verschiedentlich mit dem Thema Glück und scheint die prinzipielle Glücksfähigkeit des Menschen nicht bestritten zu haben. Allerdings zog er, was den „Rahmen“ und Beitrag der Weltgeschichte fürs Glück angeht, ein eher pessimistisches Fazit.
In seinen nicht immer ganz leicht zu durchdringenden eigenen Worten:
„Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt. Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes.“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, posthum 1837; eigene Hervorhebung)
Glück: Nicht im Plan der Schöpfung vorgesehen (Freud)
Rund 100 Jahre später springt der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, auf den Hegel’schen Wagen auf, wenngleich auf anderer theoretischer Grundlage. Für ihn ist die Absicht, glücklich zu sein, nicht im Plan der Schöpfung vorgesehen. Etwas moderner mag man statt vom Schöpfungsplan von Evolution sprechen.
Freud schreibt:
„Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch »glücklich« sei, ist im Plan der »Schöpfung« nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.“ (S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930; eigene Hervorhebung)
Ohne hier tiefer in Freuds hedonistisches Glücksverständnis und sein Konzept des Lustprinzips eintauchen zu wollen: Freud scheint unter Glück etwas Episodisches (Flüchtiges, Passageres) zu verstehen, das Resultat von Bedürfnisbefriedigung ist und notwendigerweise keine längere Dauer zulässt. Ja, mehr noch – dieses „Glück“ befindet sich im Hader mit der ganzen Welt. Diese ist nicht so strukturiert und angelegt, den Menschen glücklich zu „machen“. Das Glück besteht in einem Kontrasterlebnis und einzelnen Momenten, es stellt keinen überdauernden Zustand dar. Eine interessante Einführung zu Freuds Hedonismus findet sich etwa auf der Website von Alex Linke.
Bei Hegel und Freud erscheint das Glück als etwas Außergewöhnliches, Rares, Schwindsüchtiges. Vielleicht ließe sich sogar von etwas Unnormalem sprechen. Aber was heißt schon (un-)normal?
Ist Glück normal oder unnormal?
Im Wörtchen normal steckt die Norm. Normen bezeichnen Regeln, Maßstäbe, Richtschnüre.
Aber: Glück als Norm, geht das überhaupt? Kann Glück bzw. das Glücklichsein überhaupt normal sein, wenn seine Voraussetzungen – zumindest für die meisten von uns – bestenfalls unsicher sind, wie Hegel und Freud andeuten?
Ich denke, die Antwort hängt stark von unserem Glücksverständnis ab. Und davon, was wir unter Norm im Detail verstehen.
Verschiedene Arten der Normalität
Es gibt eine statistische Normalität. Sprich: Was häufig vorkommt, gilt als normal. In diesem Sinne wären sowohl ein dauerhaftes (durchgängiges) Glück als auch ein episodisches Höchstglücksgefühl eher statistische Ausreißer, so die empirische Forschung. Also unnormal. Je nach persönlichem Hintergrund (Genetik, Herkunft, Verhalten, usw.) dürften wir aber ein graduelles, „beschnittenes“, durchschnittliches Glück als „normal“ ansehen, da ein solches wohl von den meisten Menschen erlebt wird. Dazu weiter unten mehr.
Und dann gibt es auch noch eine normativ getönte Normalität. Hiermit ist gemeint, dass Normalität einen positiven Abgleich mit bestimmten Idealen oder wünschenswerten Zuständen (z. B. Glück, Gesundheit, Tugendhaftigkeit usw.) darstellt. Wenn Glück als „normal“ in einem normativen Sinne angesehen wird, bedeutet das, dass Menschen ein glückliches Leben führen sollten, weil dies als Idealzustand gilt.
Aber: Sollen setzt Können voraus. Glück als Ideal oder gar moralische Norm macht nur in einer Welt Sinn, in der seine Realisierung für den Träger bzw. Empfänger der Norm möglich ist. Normativität lädt den Begriff des Glücks auf, macht ihn value-laden, wie es im Englischen heißt, also wertgeladen. Ich persönlich glaube, dass Glück ein außernormatives Konzept ist.
Diese Arten der Normalität treffen nun potenziell auf verschiedene Glücksverständnisse.
Perfektionistisches, episodisches und Balanceglück
Perfektionistisches Glücksverständnis: Man kann Glück als einen Zustand der Vollendung, der Perfektion, auffassen. Das wäre eine perfektionistische Sichtweise. Dieses Verständnis ist wohl eher typisch für die normative Normalität (etwa bei Aristoteles). Hingegen im statistischen Sinne wäre dann nur der oberste Bereich der allgemeinen Glücks-Verteilung als wirklich glücklich zu bezeichnen (z. B. „die obersten 5 %“). Eine objektive Grenze nach unten dürfte es wohl aber nicht geben.
Glück wäre dann naturgemäß etwas Unnormales.
Glück im Sinne eines punktuellen Glücks (episodisch, flüchtig): Wenn Glück als Momentglück aufgefasst wird, dürfte es ziemlich normal für die Mehrheit der Menschen sein, gelegentlich glücklich zu sein bzw.: sich glücklich zu fühlen. Ein durchgängiges Glück hingegen wäre eher nicht zu erwarten und „unnormal“ (vgl. Freud oben).
Glück als Balance: Glück ließe sich auch als einen mal mehr, mal weniger positiv erregten Zustand innerer Balance und Sättigung auffassen. Als etwas, das – obgleich stets von Misfortuna bedroht und gemäß Freud im Hader mit der ganzen Welt – recht stabil ist, da es vor allem aus der Fähigkeit des Menschen resultiert, auf der Welle des Schicksals zu reiten und sich wie auf einem Stehkarussell auf einem Kinderspielplatz immer wieder selbst (oder kollektiv) auszubalancieren. Glück in diesem Sinne könnte als eine ausreichende Realisierung unserer Bedürfnisse verstanden werden, wodurch die Wahrscheinlichkeit unseres Überlebens zunimmt.
Ich persönlich vertrete letztere Position und denke, dass in diesem Sinne durchaus recht viele Menschen recht glücklich sind, Glück also nicht unnormal ist, zumindest wenn man es nicht mit perfektionistischen Idealen überfrachtet und behängt wie einen überdekorierten Weihnachtsbaum. Glück ist möglich, und das Glück ist meist schon da. Allerdings graduell, in Teilen, und es bleibt nicht von alleine. Es bedarf – neben Zufallsfaktoren – eher der Bemühung als des direkten Anstrebens, sprich: der hinreichenden Realisierung seiner Voraussetzungen.
Aber ist dieses auf einem Hochseil balancierende, eher wenig spektakuläre Glück, das vielleicht wirklich das Label der Normalität für sich beanspruchen darf, das Glück, von dem die Glücksforschung und Glücksindustrie sprechen?
Die Normalisierung des Glücks
Spätestens mit dem Aufkommen der so genannten Positiven Psychologie in den USA ist das individualistische Streben nach (immer mehr) Glück und Wohlbefinden en vogue. Viele Glücksstrategien der Positiven Psychologie scheinen dabei auf einem stark perfektionistischen Glücksverständnis (s. o.) aufzubauen. Glück ist etwas oberhalb der Normalität, Außer-Gewöhnliches. Eine Art Vollendungszustand, selbst wenn wir diesen nur teilweise erreichen – und dies auch aufgrund der vielen, vielen Zumutungen des Schicksals und Zufalls, nicht zuletzt unserer genetischen Prädisposition und sozialen Herkunft bzw. den sozial-gesellschaftlichen Umständen im Laufe unseres Lebens.
Glück erhält hier geradezu den Charakter einer sozialen Norm und rutscht in unserer Optimierungskultur mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Normativität. Wehe dem, der nicht glücklich ist und es nicht schafft, glücklich zu werden! Oder sich gar dem allgegenwärtigen Glücksstreben verweigert!
Aber kann nicht auch ein „bloß normales“, „bloß durchschnittliches“ Leben glücklich genannt werden? Normal im oben beschriebenen statistischen und nicht-perfektionistischen Sinne?
Der Philosoph Franz Josef Wetz verwendet in diesem Zusammenhang den interessanten Begriff der Normalisierung des Glücks. Er schreibt: „Normalisierung des Glücks meint, dass schon ein durchschnittliches Leben das Glück sein könnte.“ Und stellt sogleich die pointierte Frage: „Nur warum nehmen wir es dann oft nicht so wahr, sondern nur als normal und selbstverständlich?“ (F. J. Wetz, Das Glück, S. 49)
Normal hat hier offenbar einen wertenden Einschlag, stellt etwas Gewöhnliches, Banales dar, etwas, das in unserer Optimierungskultur allenfalls Würgreiz oder Verachtung auslöst.
Wir erinnern uns an Freud und sein Verständnis des Glücks als episodisches Kontrastphänomen mit schlechter Ausdauer …
Erwarten wir nicht häufig zu viel vom Glück? Wollen mit ihm einen außergewöhnlichen Zustand erlangen, der vielleicht wirklich unnormal und statistisch selten ist? Schneller, höher, weiter … Vielleicht geht es ja vielen Glücksstrebern klammheimlich um einen Vergleich mit den anderen.
Um es mit Montesquieu zu sagen: „Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen.“ (Er schiebt dann übrigens nach: „Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie sind.“)
Ein Glücklichersein, das den schier unstillbaren, durchdrehenden Drang, besser, ja vielleicht sogar: absolut, gut zu sein – zeitweise – in die Boxengasse abdrängt, und somit einen wackeligen inneren Frieden verspricht, der aufwendig erlangt wurde. Als seien wir erst als ganz glückliche Menschen wertvolle, ganze, heile Menschen. Glück als narzisstische Selbstwertstabilisierungsfunktion.
Vielleicht sollten wir lernen, zufriedener mit unserem Glück zu sein. Und die nicht immer glanzvollen, spektakulären Facetten des Glücks lieben zu lernen?!
Weitere Artikel zur Philosophie des Glücks:
- Epiktet über das Glück (inkl. Zitate)
- Kann eine Künstliche Intelligenz (KI) glücklich sein?
- Robert Nozick: Die Erlebnismaschine und das Glück
Foto: Pixabay
Vielleicht sollte ich lernen, zufriedener mit meinem Glück zu sein und Anderen ihr Glück zu gönnen.
Ist nicht ganz einfach.