Smileys versinnbildlichen toxische Positivität, Kreidebild

Toxische Positivität (engl. toxic positivity) bezeichnet ein übertrieben positives Denken, bei gleichzeitiger Vermeidung von unangenehmen Gefühlen. Warum toxischer Optimismus so gefährlich ist und wie er sich überwinden lässt. Mit kommentierten Buchtipps am Ende des Artikels zur Vertiefung.

Was ist toxische Positivität? (Definition)

Toxische Positivität (engl. toxic positivity) bezeichnet eine übermäßig positive Grundeinstellung, die sich, zumindest langfristig, von der Realität entfernt. Toxisch positiv denken bedeutet, in allem das Gute und Positive sehen. Doch nicht nur die Denkweise soll dauerhaft positiv sein (stay positive), sondern auch unsere Gefühle. Toxisch positive Menschen kommen mit unangenehmen, „negativen“ Gefühlen wie Wut, Ärger, Traurigkeit und Angst nicht zurecht. Sie betreiben viel Aufwand, um möglichst wenige dieser Gefühle selbst spüren oder in ihrem Umfeld erleben zu müssen. Stattdessen streben sie nach dauerhaft guter Laune und Wohlbefinden (positive vibes only).

Toxische Positivität: Infografik mit Definition

Parallelen des toxischen Optimismus zu einer Droge

Das Wörtchen „toxisch“ verdeutlicht, dass es sich bei toxischer Positivität – teils auch als toxischer Optimismus bezeichnet – um ein Gift handelt. Ich selbst würde von einer Droge sprechen. Natürlich fühlen sich Positivdenken, Optimismus und gute Laune super an! Das bestreitet niemand. Auch die moderne Glücksforschung weist auf die Bedeutung des Optimismus als Glücksstrategie hin. Doch die Dosis macht das Gift. Und die Abhängigkeit und hieraus resultierenden negativen Folgen, inklusive eingeschränkter Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, machen die Droge zur Droge.

Nicht anders ist es bei der toxischen Positivität. Wer erst einmal in ihre Falle geraten ist, kann nicht mehr aufhören. Berauscht sich am Ständig-Guten. Bekommt mehr und mehr Angst vor „der Welt da draußen“, außerhalb der Mauern der Positivität. Positives Denken wird zum Fetisch erhoben, an positiven Gefühlen wird sich berauscht. Der Traum der „Positivisten“: ewig gute Laune, ewig stabile Stimmung.

Positivität oder Optimismus und das Streben nach guter Stimmung sind also nicht per se das Problem, sondern die immer größer werdende Unfähigkeit der „Toxisch-Positiven“, mit der Realität unseres Lebens umzugehen. Und zu dieser Realität gehören nun einmal immer auch Dinge, die unschön sind, die sich schlecht anfühlen, die Schmerzen und Leiden verursachen, unangenehme Gefühle. Wer in der rosaroten Parallelwelt der toxischen Positivität, in der überall Schilder mit der Aufschrift „positive vibes only“ hängen, gefangen ist, feiert eine Zeitlang eine Party, deren jähes Ende einem freien Fall aus hoher Höhe gleichen kann.

Was sind die Hintergründe toxischer Positivität?

Toxischer Optimismus sprießt überall dort, wo Menschen der Illusion erliegen, dauerhaft Kontrolle über die Schattenseiten des Lebens ausüben zu können. Häufig sind sie den Quasi-Allmachts-Versprechen jener Werbung/Marketing und ähnlicher Institutionen sowie ihrer Multiplikatoren (Instagram, Facebook …) auf den Leim gegangen, die ihr Geld mit dem Anpreisen fettig-salzig-süßer Leckereien für die Seele verdienen. Chips, Popcorn und Marshmallows fürs Gemüt. Instant gratification, also schnelle Belohnung und große Versprechen statt nachhaltige Befriedigung unseres Hungers.

Kurz: Positivität und Optimismus verkaufen sich gut – weil sie, wie angesprochen, per se ja absolut nichts Schlechtes sind. Womit wir wieder bei der Dosis und therapeutischen Breite wären, also dem Abstand zwischen der therapeutischen und toxischen Dosis mit negativen Folgen für den „Patienten“ …

Toxische Posititivität ist die beste Freundin der Optimierungskultur, des Dauergrinsens und Drüberhinweglächelns. Obgleich das Phänomen alles andere als neu ist (es wird unter anderen Begrifflichkeiten seit Jahrzehnten erforscht und dürfte tiefe Wurzeln in großen Teilen westlicher Gesellschaften, insbesondere den USA, haben), zirkuliert der Begriff der toxic positivity erst seit einigen Jahren, zunächst überwiegend im englischen Sprachraum. Verwandtschaften, wenn man so möchte, bestehen zu einer Abwertung von „Schwäche“, Nichtleistungsfähigkeit und „Erfolglosigkeit“, bei zugleich ausschließlich positiver Bewertung von Erfolg, Spaß, Freude usw.

Welche Folgen hat toxisch positiv sein?

Toxische Positivität kann drastische Folgen haben, insbesondere wenn sie nicht mehr „nur eine Phase“ ist, sondern zur Droge mutiert. Betroffene kommen im Extremfall nicht mehr mit Schicksalsschlägen und allgemein kritischen Lebensereignissen zurecht, die ihre rosarote Blase, ihren Glitzer-Heliumballon zum Platzen bringen. Die Anpassung bzw. Adaptation (Bewältigung) nach negativen Ereignissen wird also immer schwieriger. Ferner berauben sich chronisch toxisch positive Menschen einiger der wichtigsten Helfer des Glücks: unseren unangenehmen, „negativen“ Gefühlen. Diese meiden sie wie der Teufel das Weihwasser – und verpassen alles Gute, was die Evolution ihnen „angehaftet“ hat, ihre Funktionalität.

Unangenehme – wie auch angenehme Gefühle – sind Hinweisgeber, Signale, die uns dabei helfen, mit der Komplexität des Lebens umzugehen. Es gibt sie aus sehr gutem Grund. Traurigkeit mag uns darauf hinweisen, dass wir ein Bedürfnis nach Trost, Verbundenheit und Zugehörigkeit haben. Ärger mag uns darauf hinweisen, dass unsere Grenzen verletzt wurden und es Zeit wird, zu handeln. Ekel mag uns darauf hinweisen, dass wir lieber Abstand von etwas nehmen sollten bzw. es „auskotzen“. Usw.

Toxische Optimistinnen und Optimisten (aner)kennen all dies nicht oder nur kaum. Unangenehme Gefühle und Lebenslagen werden vermieden (teils mit übertrieben hohem Aufwand), angenehme Gefühle und Zustände „gezüchtet“. Das Problem: Toxische Positivität kann zur Verleugnung von Tatsachen und zu einem Gewöhnungseffekt (vgl. hedonstische Tretmühle bzw. Adaptation) führen. Sie kann uns der Tiefe des Lebens berauben und zu einem seichten, oberflächlichen „Spaziergang durch Zuckerwatte“ verleiten, bei dem trotz aller Freude und allen Spaßes wesentliche psychische Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Und somit – nur scheinbar paradoxerweise – die psychische Gesundheit (wie ja auch bei Suchterkrankungen) abnehmen kann, selbst wenn uns das Leben im Wesentlichen weiterhin „gesonnen“ sein sollte.

Sonderfall: Toxische Positivität schädlich in Beziehungen / Partnerschaften

Toxische Positivität kann negative Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben. Besonders deutlich zeigen sich diese jedoch in zwischenmenschlichen Beziehungen und Partnerschaften. Denn hier kann übertriebene Positivität zu einer dauerhaften Invalidierung führen. Unter Invalidierung oder Invalidieren lässt sich vereinfacht gesagt das Nichternstnehmen oder gar Entwerten von Gefühlen, Bedürfnissen, Gedanken usw. einer anderen Person verstehen.

Toxisch positive Partner werden per Definition unangenehme Gefühlszustände und eine schlechte Stimmung des Gegenübers entweder ignorieren (leugnen, verdrängen, vermeiden, ausweichen, ablenken …) oder aber aktiv entwerten („Du denkst immer so negativ“, „Du ziehst dein Umfeld runter“, „Belaste mich nicht mit deinen Problemen“). Es verwundert nicht, dass derartiges Verhalten in einer Beziehung eher zu Konflikten oder aber einem Rückzug des Partners führen wird. Dieser wird zunehmend das Gefühl bekommen, so wie sie/er ist bzw. sich momentan fühlt, nicht ernstgenommen und für das Gegenüber nicht attraktiv zu sein. Das kann zu Wut, Rückzugstendenzen u. ä. führen und mittel- und langfristig zu schweren Beziehungskrisen oder zu einer Trennung.

Wie lässt sich toxische Positivität überwinden?

Einfache Antwort: indem Betroffene wieder mehr Farben in ihrer inneren Welt wahrnehmen lernen, helle wie dunkle, bunte wie „verwaschene“. Indem sie die gesamte Bandbreite ihrer Gefühle wiederentdecken und Kontakt zu ihren Bedürfnissen aufnehmen. Nicht nur zum Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Indem sie akzeptieren lernen, dass jedes, wirklich jedes menschliche Leben Schmerz beinhaltet und Leiden, Abgründe und Untiefen, Unsicherheiten und Ohnmacht. Und dass das nicht schlimm ist, auch wenn es sich bisweilen einfach schrecklich anfühlt. Doch nur so lässt sich die Glücksfalle, wie Russ Harris sie getauft hat, in die die toxischen Optimisten getappt sind, überwinden. Vertiefende und inspirierende Texte finden sich übrigens weiter unten im Abschnitt „Literaturtipps“.

Toxische Positivität verbildlicht durch zwei grinsende Smileys

Zusammenfassung

Unter toxischer Positivität lässt sich eine übertrieben positive Grundeinstellung verstehen, sprich: eine dysfunktionale Orientierung hin auf ein dauerhaft positives Denken. Und zwar bei gleichzeitiger „Ausgrenzung“ und Entwertung unangenehmer Gefühlszustände wie beispielsweise Traurigkeit, Ärger, Ekel und Angst.

Sie „prallt“ früher oder später auf die „Realität des Lebens“, mit der Folge, dass Betroffene deutlich schlechter gewappnet sind, mit ganz natürlichen herausfordernden und schmerzhaften Zuständen und Situationen umzugehen. Toxische Positivität oder Optimismus geht typischerweise mit der Illusion der gänzlichen Kontrollierbarkeit des eigenen Inneren oder sogar wesentlicher Teile der äußeren Welt einher. Zu betonen ist, dass nicht Optimismus oder positives Denken selbst das Problem sind, sondern ihr Ausmaß und die Inflexibilität der toxisch positiv denkenden Menschen.

Es gibt Auswege aus der Falle des toxischen Optimismus. Wesentlich ist dabei u. a. eine Neubewertung von vermeintlich negativen Gefühlszuständen und allgemein eine Verbesserung der eigenen Gefühls- und Bedürfniswahrnehmung.

Ausführliche, kommentierte Literaturtipps

Für alle, die sich ausführlicher mit den in diesem Artikel angerissenen Themen beschäftigen möchten.

Die folgenden Bücher befassen sich direkt oder indirekt mit dem Phänomen toxischer Positivität, ihren Folgen und möglichen Auswegen:

Whitney Goodman: Toxic Positivity: Wie wir uns von dem Druck befreien, immer glücklich sein zu müssen (2023, Knaur Balance; Orig. 2022). Goodman gibt eine sehr gute Beschreibung des toxischen Optimismus/Positivität und führt dabei auch vertiefend in die Hintergründe ein (gesellschaftlich, Positive Psychologie usw.). Sehr interessant finde ich ihre Ausführungen zur Bedeutung von Schamgefühlen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der toxic positivity.

Susan David: Emotional Agility: Get Unstuck, Embrace Change and Thrive in Work and Life (2017, Penguin). Deutsch als Emotionale Beweglichkeit: Für freie Entfaltung mit klarem Blick und offenem Geist (2020, Unimedica). Da mir subjektiv die Übersetzung nicht gefällt und viel Tiefe „abhandenkommt“, empfehle ich bei Sprachkenntnis das englische Original. Dieses Buch gehört zu meinen absoluten Lieblingsbüchern im Bereich der Psychologie, obwohl sich Susan David meines Erachtens stark eklektisch bei der so genannten Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) bedient. Sie beschreibt ebenso kundig wie zu Herzen gehend, wie eine Umarmung unangenehmer Gefühlszustände gelingen kann. Ebenfalls zu Herzen gehend: ihr TED-Talk.

Russ Harris: Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei: Ein Umdenkbuch (2013, Goldmann; Original: 2007). Inzwischen ein echter Klassiker, den ich in Auszügen bereits in meinem Artikel zur Glücksfalle vorgestellt habe. Immer wieder empfehlenswert und recht günstig.

Susan Cain: Bittersweet: How Sorrow and Longing Make Us Whole (Viking, 2022; dt. 2022 als Bittersüß: Wie Sehnsucht und Melancholie uns Halt und Kraft geben bei Knaur Balance). Cain, durch ihren Megaseller Quiet/Still bekannt geworden, widmet sich in diesem Buch der „Diktatur des Positiven“. Der Klappentext spricht für sich: „Die unermüdliche Suche nach Glück macht uns nicht glücklich, gesund oder ganz. Nur, indem wir uns auch leidvolle Emotionen wie Melancholie, Kummer, Trauer oder Schmerz zugestehen und sie annehmen, entdecken wir Sinnhaftigkeit. Denn in den bittersüßen Zuständen steckt ein enormes transformierendes Potenzial.“

Gabriele Oettingen: Die Psychologie des Gelingens (2015, Pattloch; engl. als Rethinking Positive Thinking: Inside the New Science of Motivation bei Penguin, 2015). v. Oettingen kritisiert unter Beachtung neuester psychologischer Forschung einen blind-einseitigen Optimismus und realitätsfernes positives Denken und zeigt mögliche Alternativen auf.

Und was sind deine Gedanken zur toxischen Positivität? Ich bin gespannt. Schreib sie gerne in die Kommentare. Falls du dich aktuell unglücklich fühlst, mach den Test: Bin ich unglücklich? (Test inkl. Auswertung).

Fotos: Pixabay

Von André Martens

André Martens ist studierter Philosoph und Psychologe mit mehrjähriger Erfahrung im Bereich der klinischen Psychologie. Er ist der Gründer des Blogs gluecksquellen.de. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich privat und professionell mit dem Thema Glück.

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