Digitale Parallelwelten veranschaulichst am Beispiel eines Videospiele spielenden Kindes

Seit einigen Jahrzehnten sprießen digitale Parallelwelten wie Pilze aus dem Boden. Egal, ob soziale Netzwerke, Videospiel-Welten oder Metaversen: Viele Menschen tauchen immer weiter in Welten jenseits unserer „analogen“ ein. Verändert sich hierdurch ihr Glück? Zum Positiven oder Negativen? Ein philosophischer Kurzessay.

Auf in neue Welten?

Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit in digitalen Parallelwelten, wie ich sie bezeichnen möchte. Ich meine damit digitale Welten jenseits unserer analogen, sozusagen echten, realen Welt.

Ihre Körper, ihr Geist und Wahrnehmungsapparat befinden sich natürlich weiterhin in der analogen Welt. Doch über Technologien und Medien tauchen sie immer tiefer in Welten jenseits der analogen ein. Zum Beispiel in Videospielwelten, inkl. Rollenspielwelten, Virtuelle Realität-Welten, Metaversen usw.

Digitale Parallelwelten: Digitale Parallelwelten sind virtuelle Umgebungen oder Räume, die parallel zur realen Welt existieren und über digitale Technologien erschaffen und erlebt werden können. Diese können in Form von Computerspielen, virtuellen sozialen Plattformen, virtueller Realität (VR) oder anderen digitalen Medien existieren. Sie ermöglichen es Benutzern, sich in alternative Realitäten zu begeben, interaktiv zu agieren und neue Erfahrungen zu machen, die von der realen Welt abweichen können.

Metaversum: Ein Metaversum ist eine virtuelle Umgebung, die Menschen über das Internet betreten können. Es ist eine komplexe digitale Welt, in der Benutzer interagieren, Inhalte erstellen und erleben können. Ähnlich einem riesigen Online-Spielplatz ermöglicht es verschiedene Aktivitäten wie Kommunikation, Unterhaltung und sogar Handel, alles in einer simulierten Realität.

Sehr breit definiert würde ich auch jene Welten, die so genannte soziale Medien und Netzwerke konstruieren, dazuzählen. Also Facebook, Instagram, TikTok und Co.

Alle diese digitalen Welten vereint, dass es sie ohne Technologie/Hardware/Medien wie PCs, PC-Games, das Internet etc. nicht gäbe. Die analoge Welt hingegen existiert, so mein Glaube, unabhängig davon, ob es uns/mich gibt oder nicht.

Früher, als der diesbezügliche technologische Fortschritt noch in den Kinderschuhen steckte, bedurfte es zusätzlich noch eines größeren Beitrags derjenigen, die in die digitalen Welten eintauchen wollten. Es bedurfte, ähnlich wie beim Lesen eines Romans oder eines Krimis, der eigenen Phantasie. Je mehr die Technologie jedoch voranschreitet, so mein Eindruck, und je fotorealistischer und verschiedene Sinne ansprechend digitale Welten werden, desto weniger muss der eintauchende Mensch selbst zur digitalen Welt beitragen. Desto mehr verschwimmen die Grenzen. Aus Wahrnehmung plus Phantasie wird immer mehr reine Wahrnehmung. Im Extremfall fühlt es sich an, als sei die digitale Welt real, echt. Ganz wie die analoge.

Und der technologische Fortschritt stagniert nicht. Es geht immer weiter.

Hinzu kommen psychologische Fortschritte. Mir fällt kein besserer Ausdruck ein. Gemeint ist, dass die digitalen Parallelwelten (psychologisch) immer glaubhafter werden, indem sich nicht-menschliche Interaktionspartner immer mehr wie Menschen verhalten. Komplexen Modellen sei Dank.

Auswirkungen digitaler Parallelwelten auf das Glück

Die Frage, die ich mir als jemand stelle, der selbst regelmäßig Zeit in besagten digitalen Parallelwelten verbringt:

Machen digitale Parallelwelten (un-)glücklicher?

Der u. a. finanzielle und zeitliche Aufwand, den ihre Erschaffung bedeutet, legt nahe, dass sie das Ziel haben, Menschen etwas zu geben, damit diese letztlich etwas zurückgeben (Gebühren, Aufmerksamkeit, Daten usw.).

Was genau bekomme ich als Nutzer in digitalen Parallelwelten?

Ich glaube, diese wurden überwiegend von psychologisch kundigen Teams konstruiert, so dass die üblichen Verdächtigen infrage kommen. Uns sollen positive Emotionen ermöglicht (man denke an Katzenvideos auf Youtube und das Gefühl des Stolzes nach einem Sieg bei einem Videospiel) und grundlegende Bedürfnisse befriedigt werden (z. B. Bindung, Verbundenheit und Zugehörigkeit in den sozialen Medien, Kontrolle und Orientierung in arbeitsbezogenen virtuellen Realitäten, Lustgewinn in Spielewelten usw.). Somit wären sie durchaus so etwas wie Quellen des Glücks.

Die philosophische Frage lautet nun: Tun sie dies genauso gut (oder sogar besser) als die reale, echte, analoge (oder wie auch immer man sie nennen möchte) Welt?

Digitale Parallelwelten: Manipulation statt Erfüllung?

Meine persönliche, etwas pessimistische, Antwort lautet: Ich glaube, sie tun es, zumindest langfristig, schlechter und vor allem weniger nachhaltig, als es potenziell in der analogen Welt möglich wäre.

Warum?

Weil diese Welten konstruiert wurden, um etwas mit ihren „Bewohnern“ zu machen. Sie haben einen Zweck, Ziel. Sie wurden, durch technologische Grenzen, mehr oder weniger gut an uns Menschen angepasst, auf uns zugeschnitten, damit wir zumindest kurzfristig zufrieden und entsprechend bereit sind, Geld auszugeben, Aufmerksamkeit zu schenken, Daten zu spenden usw. Was auch immer der jeweilige intendierte Return der Schöpfer der digitalen Parallelwelten sein mag.

Die analoge Welt hingegen hat sich nicht an uns angepasst, sondern wir uns an sie (und in Grenzen haben wir sie gestaltet bzw. ge-/zerstört). Das nennt man auch Adaptation.

Adaptation: Adaptation in der Evolutionsbiologie bezieht sich auf die Anpassung von Organismen an ihre Umgebung über Generationen hinweg. Es ist ein Prozess, durch den bestimmte Merkmale oder Verhaltensweisen entstehen, die das Überleben und die Fortpflanzung eines Organismus in seiner spezifischen Umwelt fördern.

Wir mussten uns in der Menschheitsgeschichte immer wieder an sich verändernde Umwelten, die keine Rücksicht auf uns nehmen, anpassen, um zu überleben. Diese Interaktionen zwischen uns (bzw. unseren Vorfahren) und „der“ Welt tragen wir gewissermaßen in uns herum, als Sedimente früherer Erfahrungen bzw. gelungener Anpassung. In unseren Genen. Kurzfristig aber auch als Erfahrungen bzw. (inter-)individuelle Lerngeschichte.

Die analoge Welt ist nicht darauf hin angelegt, uns glücklich oder zufrieden zu machen. Eine atemberaubend schöne Landschaft existiert nicht, um Menschen glücklich zu machen.

Vielleicht würden mir Kreationisten jetzt widersprechen. Ich glaube trotzdem, dass die analoge Welt an sich neutral ist, weder gut noch schlecht, weder wohlwollend noch missgünstig.

Wir haben gelernt, uns anzupassen, zu wachsen, zu überleben, uns zu entfalten. Einen Platz zu finden und notfalls neue Plätze. Wir sind hinreichend flexibel. Zum „normalen“ Leben gehört das Gelingen ebenso dazu wie das Scheitern. Trial & Error. Wohl vor diesem Hintergrund sind unsere Bedürfnisse entstanden. Sie zu befriedigen hilft uns, in der Welt zu sein und (noch eine Weile) zu bleiben. Befriedigen: bei Durst trinken, bei Kälte ein Feuer machen, bei Einsamkeit mir zugeneigte Menschen aufsuchen usw. All das ist keine Garantie, aber erhöht die Wahrscheinlichkeit des (Über-)Lebens.

Digitale Parallelwelten haben keine Geschichte

Die von Menschen erschaffenen digitalen Welten sind jedoch gewissermaßen geschichtslos, ohne relevante Evolutionsgeschichte. Sie fokussieren zumeist auf etwas, das Psychologen als Instant Gratification, sofortige Belohnung, bezeichnen.

Instant Gratification: Instant Gratification bezeichnet die sofortige Befriedigung von Bedürfnissen oder Wünschen, ohne Verzögerung oder langfristige Planung. Es ist das sofortige Gefühl der Befriedigung oder Belohnung, das durch unmittelbare Befriedigung entsteht, oft auf Kosten langfristiger Ziele oder Konsequenzen.

Und hier liegt vielleicht die langfristige Gefahr: Wir müssen uns kurzfristig kaum anpassen, wir müssen nicht kämpfen und im großen Stil erlernen, uns in ihnen zu bewegen. Wir legen uns ins gemachte Bett. Die allermeisten digitalen Welten sind unmittelbare, aber meist nur sehr selektive Bedürfnisbefriedigungswelten. Und teilweise werden uns auch Dinge einfach als essentielle Bedürfnisse verkauft … Als Bild: Chips sind kurzfristig verlockend/lecker, in Übermaßen langfristig ungesund.

Gleichzeitig leben wir immer noch (und daran dürfte sich kurz- und mittelfristig nichts ändern) in der analogen Welt. Mit unseren Körpern und unserem Geist, wenn dieser so etwas wie einen „Ort“ haben sollte. Wir haben noch immer die Bedürfnisse, die unsere Evolutionsgeschichte uns „eingepflanzt“ hat. In digitalen Parallelwelten werden diese, falls es gelingt, ersatzbefriedigt. Und zwar exzessiv. Mit Mangel und Entsagung lässt sich kein Geld verdienen. Wir gieren nach „Belohnung“ und Befriedigung.

Dadurch kann es zu einer übermäßigen Bedürfnisbefriedigung kommen. Zum Beispiel einem Dauer-Lustgewinn. Bisschen schlafen, bisschen essen und den Rest des Tages am PC zocken …

Wenn das funktionieren und dauerhaft glücklich machen würde, warum tun wir es dann nicht alle? (Okay, klar, weil dann z. B. niemand mehr Nahrung und Strom herstellen würde …) Warum gibt es dann, um obiges Beispiel aufzugreifen, so etwas wie eine Spielsucht?

Ich vermute, weil es eben nicht nachhaltig befriedigend ist. Wir verlernen, mit Mangel und Entbehrung umzugehen, Durststrecken zu überstehen, und brauchen gleichzeitig immer höhere Dosen, um denselben Befriedigungseffekt zu erhalten (vgl. die hedonistische Tretmühle).

Digitale Parallelwelten sind künstlich, unnatürlich, und dadurch im Wortsinne gegen unsere Natur, die sich realistischerweise nicht binnen weniger Jahrzehnte verändern wird. Wir verlieren immer mehr den Bezug zu unserer natürlichen Leiblichkeit und der Prägung der Stammesgeschichte, die sich durch ein bisschen Binärcode ganz sicher nicht ändern wird.

Wer immer mehr Zeit in digitalen (schein-)heilen Welten verbringt, verlernt das reale Adaptieren, Sichanpassen, an widrige Umstände.

Ich gebe zu: Wenn die digitalen Parallelwelten exakt so konstruiert wären, wie die analoge, reale, dann würde meine Argumentation in der Luft hängen. Doch dann bräuchten wir sie auch nicht, denn sie sind teuer und wir hätten sie ja bereits jeden Tag um uns herum.

Um nicht zu pessimistisch zu enden: Ich glaube durchaus, dass digitale Welten wie die entstehenden Metaversen zu unserem Glück beitragen können, wenn wir nicht verlernen, unsere Bedürfnisse auf natürliche Weise in der gewissermaßen echten Welt zu befriedigen. Und wenn wir, da bin ich ganz Anhänger der Kritischen Theorie, uns nicht in den Interessen ihrer Schöpfer verfangen, wenn wir uns nicht Scheinbedürfnisse aufquatschen lassen, die wir eigentlich gar nicht haben.

Allen, die mir widersprechen (was ich verstehen kann), empfehle ich den Artikel Robert Nozick: Die Erlebnismaschine und das Glück, welcher ein berühmtes Gedankenexperiment vorstellt, in dem sich Menschen an eine so genannte Erlebnismaschine anschließen lassen können, die maschinell dauerhafte Freude (Stichwort: Hedonismus) und, wenn man so will, Glück erzeugt. Dies dürfte ja auch das Ziel vieler gegenwärtiger oder zukünftiger digitaler Parallelwelten sein.

Noch mehr Texte zur Philosophie des Glücks gefällig? Sehr gerne:

Foto: Pixabay

Von André Martens

André Martens ist studierter Philosoph und Psychologe mit mehrjähriger Erfahrung im Bereich der klinischen Psychologie. Er ist der Gründer des Blogs gluecksquellen.de. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich privat und professionell mit dem Thema Glück.

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